Sugar Turtle



Hätten sie nicht die umgebundenen Flügel, so wären diese Engel vielleicht echte.

— Walter Benjamin, Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages



Wenn eine wesentliche Eigenschaft von Kunstwerken ist, dass sie auf etwas außerhalb ihrer selbst zeigen können, sich selbst hingegen unvermeidlich zeigen müssen, dann laufen Böhnleins Figuren in ihrem Environment Sugar Turtle auf eine eigenartige Tautologie hinaus: müde zeigen sie darauf, dass sie sich zeigen müssen. An ihnen scheint nicht spurlos vorbeigegangen zu sein, dass Herstellung und Reproduktion von Affekten und körperlicher Sichtbarkeit heute zur zermürbenden Pflicht und bereitwillig akzeptierten Tugend geworden ist.

Sugar Turtle erinnert an einen Wintergarten. Nicht nur durch seine Möblierung, sondern weit mehr durch die Tatsache, dass hier Natur und Stube gegenläufig verhandelt werden. Aber nicht nur das Environment, als Schwellenraum, trennt und montiert Natur und Kultur, sondern auch in den Objekten selbst wiederholt sich die Geste des Risses und der Vernähung von Natürlichem und Künstlichem in unterschiedlichsten Facetten und Abstufungen. In diesem Wintergarten sind die Pflanzen Fotoleuchten mit Stofffetzenbaldachinen, die Schatten werfen. Paravents fungieren als Raumteiler und Luftscharniere. Den Sockeln werden die Füße weggezogen und bekommen so die Form von Baumstümpfen, Steine aus Pappmaché liegen auf Hunden, die die Silhouette von Vögeln haben. In Iris Böhnlein Objekten vernähen sich Antagonismen zu Hybriden unterschiedlichster Art, oder formieren sich Bildfragemente zu neuen Tier- und Menschenshivas. Sie alle sind die fragmentarischen und porösen Zeugen des Blicks, der unablässig auf ihnen lastet, sie in die „gelungene Einpassung ins Unvermeidliche“ zerrt und von ihnen die authentische, unvermittelte Performance abverlangt, die sie nie liefern werden.

(Perfumed with) a smell of gallantry heißt ein Objekt an der Peripherie des Skulpturenensembles. Die zwei grob ausgesägten ovalen und industriell perforierten mdf-Platten, mittels Kunststoffscharnieren zu einer Klappe verbunden, erinnern an eine Art riesiger Auster, die auf einem eher instabil wirkenden Sockel steht, der sich noch unschlüssig ist, ob er Wurzeln schlagen, oder die Weite suchen soll. Die große Klappe kann sich aus eigener Kraft nicht mehr offen halten, Bedingung ihrer Rede ist ein zusammengerollter Bildfetzen, eine Werbeseite aus einem Lifestyle-Magazin.

Wenn wir uns hier die Erfüllung unseres innigsten aller Träume wünschen, nämlich nun endlich das Aufrichtige, Einmalige und Unberührte zu entdecken, um es sogleich in unser kreatives Netzwerk einzuspeisen, dann werden wir an diesem Ort nicht bedient. Böhnleins Interesse an den Objekten des Alltags basiert sicher nicht nur auf einer persönlichen oder gar intimen Verbundenheit zu diesen, eher begegnen wir einer schon sedimentierten Realität des Sozialen und Medialen. Wir betreten hier ein photophiles Brachland: kein einziger Fetzen ist hier mehr zu finden, der seine mediale Vermittlung nicht schon antizipiert, verinnerlicht und gebrochen hat; kein Flicken, in dem sich keine unsichtbaren Machtstrukturen eingeschrieben haben.

Diese kristalline und tote Natur bewässert Böhnlein mittels 7 Videoprojektionen. Kleine Filme und Loops bringen Farbe, Wasser und Bewegung in und an die medial präformierten Objekte. Die Filme beleben die gespenstische Szenerie mit Bildern von Springbrunnen und Bächen. In der Tonspur hört man die Geräusche der Natur. Der Film erscheint plötzlich natürlich. Ab und zu huscht ein hüpfendes und tanzendes Wesen durch das satte Grün, als wolle die Künstlerin ihr eigenes Werk erlösen. Als Troll, als Schamanin, entsponnen aus dem toten Stoff, den sie selbst vernäht hat, entschlüpft aus den Cut-Outs der Bilder und Objekte, die sie selbst herausgeschnitten hat – aber, wie könnte es anders sein, selbst hinter Masken und Tüchern verborgen.



Jana Fischbach, Michael Hofstetter, Juli 2019